Von den Schlauesten unter allen Wespen

Diesen neuen Freund Vespas ereilte noch am gleichen Tage ein trauriges Schicksal. Mitten im Hochzeitstanz wurde er von einer Hornisse angegriffen. Die rote Räuberin schoß wie ein Sperber auf den Unglücklichen nieder und umklammerte ihn mit ihren starken Beinen. Wie von einer Kugel getroffen, stürzte das Männchen ab und empfing schon während des sausenden Sturzes den tödlichen Stich in die Brust. Als auch Vespa landete, war das arme Kerlchen schon tot und wurde von der Hornisse bereits in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. Vespa wagte sich nicht an die bös aufsummende Räuberin heran, sondern hielt sich fluchtbereit in achtungsvoller Entfernung. Sie mußte es mit ansehen, wie die Brust ihres Freundes von der Hornisse zerkaut wurde. Trotzdem war ihre Neugier größer als ihre Angst. Und darum folgte sie der Hornisse, als diese große Wespenschwester mit den Resten ihres Opfers zwischen den Kiefern davonflog.

        Das Hornissennest war bald erreicht. Es befand sich in einem großen Astloch. Der Eingang war durch feine Holzvorhänge ver­engt worden. Vespa sah, wie einige Hornissen diese Vorhänge noch verdichteten und erkannte, daß auch sie aus zerkauten Holzfasern angefertigt wurden. In die Burg wagte sie sich freilich nicht. Und als sie gar noch sah, wie die heimkehrenden Hornissenjäger sogar die Bruststücke großer Libellen eintrugen, packte sie das Grauen vor diesen gewalttätigen Verwandten. Ja, vor der Hornisse war wirklich kein anderes Insekt sicher! Sie wagten sich an Honigbienen wie an Libellen, an giftige Spinnen aller Art und kräftige Heu­schrecken, sie überwältigten den Blumenkäfer wie den Schmetter­ling und sämtliche Fliegen und Motten. Selbst die eigenen Ver­wandten waren vor ihnen nicht sicher. Sogar der überaus wehrhafte Bienenwolf, der zu den großen Grabwespen gehörte und vor allem Honigbienen jagte, erlag den Hornissen.

        Da war es eben doch besser, wenn sich Vespa aus dem Staubt machte. Aber sie prägte sich die Gestalt und den gefährlichen Summ­ton dieser Verwandten gut ein. Denn diese Hornissen waren viel­leicht überhaupt die einzigen, die Vespa zu fürchten hatte. Die Vögel hüteten sich fast allesamt sehr, nach einer Wespe zu schnappen. Schon oft war es geschehen, daß sie Vespa verfolgten, dann aber plötzlich abschwenkten und sich lieber ein Insekt ein­verleibten, das nicht über einen solchen Giftstachel verfügte. Nur der Wespenbussard fürchtete sich nicht. Er hüpfte an die Wespen­nester, holte sich heraus, was er brauchte und tat sich gütlich an Waben und Tieren. Wer sollte sonst Vespa nach dem Leben trachten? Die Hasen und Rehe, die Füchse und die Wildschweine, die Eich­kater und die Marder vielleicht? Oder gar die Menschen? Die zogen alle zusammen ängstlich den Kopf ein, wenn Vespa vorübersummte! Die wußten nur allzugut, daß Vespa nicht zögern würde, jeden Gegner anzunehmen und sofort zuzustechen, wenn sie angegriffen oder auch nur gereizt wurde.

        Und darum konnte es sich Vespa leisten, jetzt ohne Bedenken das Pflaumenmusbrot des Hütejungen anzufliegen und in aller Ruhe von dem süßen Obst zu naschen. Achtungsvoll hielt der Junge mit Kauen inne und wartete geduldig, bis der ungebetene Gast satt war. Er wußte: nur nicht nach einer Wespe schlagen! Blieben sie un­gestört, dann konnten ruhig zehn über seine Hand und sein Brot krabbeln, dann dachten sie nicht daran, ihren Giftstachel zu ge­brauchen. Wie gierig sie war! Wie ihr ganzer Leib unter dem Aufsaugen bebte! Wie kalt und doch wie wild ihre Augen glitzer­ten! Und wie herrlich die Farben ihres Körpers und ihrer gläsernen Flügel schimmerten!

        Nicht lange mehr und Vespa würde Eier legen, aus denen sich tüchtige Arbeiterinnen und zukünftige Königinnen zu entwickeln Vermochten. Wäre sie im Nest geblieben, dann wäre sie nicht zur vollen Reife gelangt und hätte nur Eier legen können, aus denen Männchen wurden. Viele junge Königinnen blieben im heimatlichen Nest und sorgten dafür, daß es genug Männchen gab. Aber noch war die Zeit des Eierlegens für Vespa nicht gekommen. Noch durfte sie umherschweifen und die Freiheit genießen. Und wenn auch die Felder sich langsam leerten und die goldene Frucht auf hochbeladenen Erntewagen in die Dörfer rollte, wenn auch die Wiesenblumen zum zweiten Male unter der Sense niedersanken, so flammte es doch an allen Wegrainen, Waldrändern, Bachufern und Bahndämmen von bunten Blüten. Unter jedem Baum aber lagen die überreifen und zuckersüßen Früchte. Und darum dachte Vespa auch noch nicht an die Heimkehr. Nein, sie war des Schweifens und Streifens noch nicht müde!

        Und sie lernte in diesen Tagen auch die Wespen kennen, die sich weder Brutkrüge aus Lehm, wie die Pillendreher, noch Glockenschirme aus Holzfasern herstellten, die weder Bruthöhlen in die Erde gruben noch Beutetiere mühselig heimschleppten, die aber auch nicht die krummen Wege der Feuergoldwespen benutzten und ihre Eier in fremde Nester legten. Es waren ziemlich kleine und sehr dünnleibige Wespen, die Vespa wegen ihrer zierlichen Gestalt bisher gar nicht so recht beachtet hatte. Und zuerst glaubte sie wirklich, eine zarte Mücke vor sich zu haben. Nur die schwarze Farbe des Leibes paßte nicht zu dem Mückenbild. Wie die Grabwespen stürzten sich auch diese kleinen Schlupfwespen auf alle unbehaarten Raupen und stachen sie an. Während aber die Raupen nach dem Stich der Grabwespen kurz aufbäumten und dann zusammenbrachen, fraßen die von den Schlupfwespen gestochenen Raupen seelenruhig weiter. Sie zuckten kaum richtig zusammen. Vespa wunderte sich sehr. Was sollte diese Raupenstecherei wohl Für einen Sinn haben? Die Raupen spürten die Stiche ja kaum! Und auch die Schlupfwespen ließen nach mehreren Einstichen so­fort wieder von den langweiligen Fressern ab lind flügelten davon. Seltsam! Vespa wußte sich das ganze Geschehen nicht zu deuten. Erst als sie näher hinzukam, erkannte sie, daß der Stachel der Schlupfwespen in Wirklichkeit ein feines Rohr war, durch das die Schlupfwespenweibchen die Eier ausstießen — ein Legebohrer. Ja, ein ganz wunderbar erdachter Legebohrer sogar! Die Stechborsten an diesem Bohrer waren mit kleinen Zähnen versehen und konnten schnell und leicht durch die dicke Raupenhaut dringen. Und noch mehr erkannte Vespa! Sie sah ganz deutlich, wie die Eier der Schlupfwespen durch diesen Legestachel wanderten. Und jetzt ging ihr ein Licht auf. Die Schlupfwespen legten ihre Eier in die fetten Raupen hinein! Klar, so war es! Die angestochene Raupe war für die aus den Eiern schlüpfenden Schlupfwespenlarven ein wandelnder Fleischvorrat. Natürlich: Wenn die Larven sich nicht gleich auf die edlen Organe der Raupe stürzten, sondern sich nur an die auf­gespeicherten Fettvorräte hielten, dann saßen sie mitten im Schlaraffenland. Und die zunächst nur saugenden Mäulchen verhinderten, daß sich die Larven vorerst an den lebenswichtigen Organen  ihrer Wirtstiere vergreifen konnten.

        Wahrhaftig, diese Schlupfwespen waren vielleicht die klügsten aller Wespen! Denn ihre Larvenkinder waren nicht nur reichlich mit bestem Frischfleisch versorgt, sondern auch noch den Blicken ihrer Feinde und den Unbilden des Wetters entrückt. Daß die Raupe zuletzt von ihren Untermietern von innen her aufgefressen wurde, war für Vespa nicht wichtig. Nur der glänzende Einfall der Schlupfwespen begeisterte sie. Und sie beobachtete diese Artgenossen in Zukunft sehr aufmerksam und stellte dabei fest, daß sie durchaus nicht nur Raupen anstachen. Oh, nein, die Familie der Schlupfwespen war sehr groß! Da gab es welche, die Spinnen und Tausendfüßler mit ihren Eiern bedachten. Andere wieder, die es auf alle möglichen Insekteneier abgesehen hatten. Selbst die Käferlarven tief im Holz, die Köcherfliegen im Schlammgrund der Teiche und die Fliegen­maden im Moder waren vor diesen kleinen Wespen nicht sicher. Vespa sah es staunend, wie die eine dieser Wespen, die sich Pfeifenräumer nannte, ihren unwahrscheinlich langen Legebohrer durch eine dicke Eichenrinde trieb. Man hätte es nie für möglich ge­halten, daß man mit solch haardünnem Bohrer überhaupt in das feste Holz eindringen könnte. Der Pfeifenräumer aber versenkte seinen Bohrer sogar fünf Zentimeter tief und traf haargenau auf die verborgene und sich so sicher wähnende Käfer- oder Holz­wespenlarve. Wie er es fertig brachte, diese heimlichen Wühler und Fresser von außen her aufzuspüren, das verriet der Pfeifen­räumer allerdings nicht. Hinter dieses sein Geheimnis werden wohl auch wir Menschen niemals kommen.

        Ja, und es gab ganz winzige Schlupfwespen, die ihre kaum noch sichtbaren Eier den Blattläusen einverleibten. Und es gab noch winzigere Schwanzwespen, die ihre Eier in die Eier und Larven der Schlupfwespen hineinlegten, die sich schon im Leib der Wirts­tiere befanden. Vespa fand es einfach toll. Denn die Larven dieser zwergenhaften Scbwanzwespen fraßen dann vor allem einmal die Eier oder die Maden der Schlupfwespen auf und wandten sich erst danach den Fettschichten der Raupen zu. Es gab wirklich keinen Schutz vor den Wespenmüttern! Es schreckte sie kein Panzer, keine Giftklaue, kein Stachel und keine Körpergröße. Und wenn die Schmetterlingsraupen glaubten, daß sie dem fürchterlichen Wespenschicksal durch die Verpuppung endgültig entgangen wären, dann bewies ihnen die grünschimmernde Puppenzehrwespe. daß ihr Legebohrer auch durch die härteste Puppenhaut drang. Und dann war es doch wieder aus mit dem Traum vom künftigen Schmetterlingsleben. Dann schlüpften im nächsten Frühjahr aus der Raupenpappe einige Dutzend hübsche kleine Wespen.

        Der Wespe gehört eben doch die Welt! Laut summend trug Vespa diese Überzeugung durch das Land. Wir Wespen waren die ersten Höhlenbauer und Maurer und Töpfer! Wir Wespen erfanden die Herstellung des Papiers! Wir Wespen beherrschen jedes Raumgesetz und lösen spielend jede geometrische Aufgabe! Wir Wespen sind die besten Anatomen und Chirurgen! Wir Wespen bestäuben die Blumen und beschützen das große Pflanzenreich vor den unübersehbaren Heeren der Schädlinge! Ohne uns Wespen wären Wald und Feld schon längst dem Hunger der Raupen und Käferlarven zum Opfer gefallen! Wir Wespen halten das große Insektenheer in Zucht und Ordnung! Und nur wir Wespen scheuen vor keinem Kampf und vor keiner Grausamkeit zurück! Wer will sich mit uns Wespen messen?!

zurueck zu Kapitel 3naechstes Kapitel