Von Vespas Heimkehr in die Totenstadt

Schnell vergingen unter diesen Abenteuern und Erlebnissen der August und die erste Hälfte des Septembers. Die Tage wurden kürzer und die Nächte kühler. Vespa war morgens oft starr und steif und mußte immer häufiger an das unterirdische Reich, an das heimatliche Nest denken. Seitdem sich kein Männchen mehr zu ihr fand, hatte das Umhertollen seinen Reiz verloren. Viel Neues gah es auch nicht mehr zu sehen. Die ballonförmigen Nester der kleinen Waldwespen glichen im großen ganzen dem eigenen Nest. Nur hingen diese Wespen ihre Papierkugeln frei an Zweigen oder unter Dachvorsprüngen auf und begnügten sich mit drei oder vier kleineren Waben. Na ja, und auch die noch bescheideneren Nester der Feldwespen, die sich wie ein zierliches Kelchglas ausnahmen, waren keine aufregenden Entdeckungen. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte, Vespa hatte das freie Leben satt und trachtete heim.

        Dieser Entschluß ist leicht gefaßt, werden wir jetzt sagen, wie über soll sie nun das kleine Loch in der weiten Landschaft wiederfinden? Wochenlang hat sie sich herumgetrieben und kilometerweit von der Heimat entfernt. Es ist doch schier unmöglich, daß sie nun weiß, wohin sie sich zu wenden hat! Vor allem hatte sie damals, als die Buben das Nest ausräuchern wollten, ja gar keine Zeit, sich die nähere Umgebung der Heimat einzuprägen. Sie war doch zornwütig aufgestiegen Nest der Waldwespe in natuerlicher Groesseund den Brandstiftern nachgeflogen! Stimmt alles! Aber wir haben schon einmal erwähnt, daß sich Vespa auf ihren Ortssinn verlassen konnte. Und dieser wunderbare Ortssinn führte sie jetzt tatsächlich in die Heimat zurück. Das klingt unwahrscheinlich, nicht wahr? Aber auch die Grabwespe fand ja die kleine in den Hang gescharrte Höhle unfehlbar wieder. Und auch sie hatte die Jagd nach den Raupen oder Käfern weit fortgeführt, hatte sie kreuz und quer übers Land fliegen lassen. Trotzdem stieg sie ohne Zögern auf und flog ohne jeden Umweg zur Höhle zurück. Die Wespen haben es nicht nötig, wie zum Beispiel die Bienen, sich erst einmal in vielen kleinen Rundflügen die Umgebung ihrer Heimat einzuprägen, ehe sie sich weiter wegwagen. Dabei ist schon der Ortssinn der Bienen bewundernswert. Der Sinn, der die Wespe leitet, aber ist einzigdastehend. Er ist das größte Rätsel, das uns die Wespen aufgeben. Vespa kam also wahrhaftig zum heimatlichen Nest zurück und wurde von den Torwächtern bereitwillig einge­lassen. Denn noch immer trug sie den Nestgeruch an sich.

        Das unterirdische Reich hatte sich inzwischen noch bedeutend vergrößert und glich jetzt in seiner Gestalt einem recht stattlichen Kürbis. Die Männchen und Weibchen stellten zusammen fast ein Drittel aller Staatsbürger dar. Die ersten Waben mit den kleineren Zellen der Arbeiterinnen waren nun alle leer und bereits bis auf die Grundpfeiler abgetragen. Da man nur noch Weibchen und Männchen großzog, waren die kleinen Zellen der oberen Etagen überflüssig geworden. Die sparsamen Baumeister hatten deshalb die Wände der Arbeiterinnenzellen abgenagt, das „Papier" frisch eingespeichelt und zum Bau der größeren Zellen verwendet. Genau so klug und sparsam waren sie bei der notwendig gewordenen Erweiterung des Nestmantels vorgegangen. Hier hatten sie einfach die inneren Schuppen abgeschabt und den also gewonnenen Baustoff außen wieder aufgelegt. Dadurch hatten sich viele Flüge zu den alters­grauen Telefonmasten, von denen sie sonst das Holz abzuschaben pflegten, erübrigt, und es war viel Zeit gespart worden. Ja, wozu in die Ferne schweifen? Seht, das Gute liegt so nah! Die Wespen beherzigten dieses Sprichwort wirklich und fuhren gut dabei. Über­haupt waren sie alle sehr fleißig gewesen. Es wimmelte und kribbelte nur so zwischen den Wabenstockwerken, die sich inzwischen auf zehn erhöht hatten. Die Brutpflege war noch in vollem Gange.

        Auch Vespa begann, sozusagen probeweise, einige leere Zellen mit ihren Eiern zu bestiften. Schon lange hatte sie den Drang dazu verspürt und war nun eigentlich recht glücklich. Sie wurde über­haupt sehr häuslich und verließ kaum noch das unterirdische Reich. Wie die alte Königin selbst wurde sie von den Ammen und Jägern mit guter Nahrung versehen, so daß sie dem Geschäft des Eierlegens in aller Muße nachkommen konnte. Nicht zuletzt aber war es die Wärme des Nestes, die sie jetzt anzog, denn das Wetter ver­schlechterte sich von Tag zu Tag. Ein unfreundlicher Herbst war ins Land gezogen. Die Gräser gilbten, und die bunten Blätter flogen weit über die Wiesen. Brausend und heulend fuhr der Wind durch den Wald. O ja, da saß es sich gut im geschützten Nest, das kein Windhauch und kein Regenschauer traf!

        Die Fliegenjäger allerdings kehrten jetzt mit immer geringerer Beute zurück, Es mußte schon viel Honig verfüttert werden, den die Sammler von den letzten Blüten heimbrachten. Auch das Fall­obst lieferte noch reichliche Tracht. Und ganz besonders kühne Wespen gingen zu gewagten Einbrüchen in die Vorratskammern der Menschen über. In den Dörfern wurde viel gemostet und Sirup eingekocht. Da war also immer noch etwas zu holen. Trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, daß die Larven Anfang November manch­mal schon recht knappe Kost erhielten. Bereits Ende November wurde das Eierlegen eingestellt. Und plötzlich traf Vespa in den Wabengassen auf tote und sterbende Männchen. Das war eine un­erhörte Erscheinung. Niemals, solange Vespa denken konnte, hatte ein toter Bürger des Staates in den Gängen gelegen. Vespa erschrak sehr. Krankheiten und Seuchen würden diese Leichen und diese Kranken im Nest verbreiten! Und darum packten sie und alle noch gesunden Ammen diese Kranken und Toten und schleiften sie hin­aus. Brrr! Die Wiese war schon bereift! Nein, das Leben war keine reine Freude mehr! Und der Toten wurden so viele, daß man sie zuletzt nur noch in die große Abraumhöhle unter dem Nest stürzen konnte. Dort unten versammelten sich jetzt allerlei Käferlarven und Vielfüßler, die fröhlichen Leichenschmaus hielten und für die Reinigung der Nestumgebung sorgten.

        Noch ärger aber jammerte es Vespa, die Not der darbenden und hungernden Larven anzusehen. Mit windenden Köpfen gierten die armen Würmer vergeblich nach Atzung. Doch keine der sonst so rührend besorgten Ammen kümmerte sich noch um die Larven. Denn auch die Ammen starben jetzt schnell hintereinander weg. Die Jäger und Sammler aber verließen das Nest an besonders schönen Tagen nur noch, um den eigenen Hunger notdürftig zu stillen. Gewöhnlich beteiligten sie sich an der Beseitigung der vielen Sterbenden. Das tiefeingewurzelte Sauberkeitsempfinden schien bald überhaupt noch der einzige Trieb zu sein, der den aussterben­den Staat und seine letzten Bürger beseelte. Die Totengräber schafften, bis sie selbst entkräftet zusammenbrachen. Und immer noch wandten sich Hunderte von hungernden Larven in ihren Zellen. Wenn diesen unglücklichen Wespenkindern Stimme gegeben wäre, hätte ein einziges Wimmern die Totenstadt erfüllt. Aber auch so schien es allen noch Überlebenden plötzlich unerträglich zu werden, der Not der Brut zuschauen zu müssen. Denn als droben die ersten Schneeflocken zu wirbeln begannen, stürzten sich alle Ammen, Männchen und Weibchen wie auf ein gegebenes Zeichen auf die Zellen. Sie packten die Larven am Nacken, zerrten sie roh heraus, fielen wie die wilden Teufel über sie her und zerfetzten sie ohne Erbarmen. Es war ein entsetzliches Gemetzel. Keine der Larven blieb verschont. Und auch Vespa wütete drauflos. Die traurigen Reste der Wespenkinder wurden dann gemeinsam in den großen Friedhof hinabgestürzt. Vespa begriff, daß die Larven durch diese Bluttat vor einem langen und qualvollen Hungertod bewahrt wurden. Was so schrecklich erschien, war eigentlich eine barmherzige Handlung. Jeder Wespenstaat ist im Winter dem Tode verfallen. Was nützt es, sich gegen dieses unerbittliche Naturgesetz aufzulehnen? Auch jeder Hummelstaat ist nur einjährig. Nur die Bienen- und Ameisenstaaten bestehen viele Jahre lang. Darum ist es wirklich besser, schnell und entschlossen reinen Tisch zu machen. Am anderen Tag plünderten die wenigen Überlebenden auch die mit Eiern bestifteten Zellen. Die Eier wurden aufgeschlitzt, aber nicht in die Abfallgrube geworfen, sondern verzehrt. Diese Henkersmahlzeit mundete den halbverhungerten Tieren vorzüglich und kräftigte sie für kurze Zeit.

        Wir Menschen aber fragen uns, warum die Wespen diesem Naturgesetz zum Trotz bis in den November hinein noch Eier legen und Brut großziehen? Spüren sie es nicht, daß sie alle in wenigen Wochen zugrunde gehen müssen? Und wenn ihnen dieses Wissen licht gegeben ist, warum läßt die Natur dieses vergebliche Bemühen und dann dieses Blutbad zu? Warum versiegt nicht zur echten Zeit der Eiersegen im Leib der Königinnen? Es ist doch sonst alles so sinnvoll und so weise eingerichtet! Doch auf alle diese Fragen gibt es noch keine Antwort. Wir müssen uns damit zufrieden geben, daß das Aussterben des unterirdischen Wespenstaates so vor sich geht, wie es eben geschildert wurde. Vielleicht gab es einmal eine Zeit, da auch die Wespenstaaten mehrjährig waren? Vielleicht hat die Natur sich erst später selbst berichtigt, weil sie einsah, daß sonst das Gleichgewicht in der Insektenwelt gestört würde? Wir wissen es nicht.

        Nach dem Eierschmaus starb auch die alte Königin. Ihr Tod ließ alle Ordnung im Wespenstaat zerfallen. Auch Vespa empfand keine Bindung mehr an das heimatliche Nest. Sie spürte nur, daß sie selbst nicht dem Untergang geweiht war. Was sollte sie also noch in dieser Stadt der Toten?

        Vespa raffte ihre letzten Kräfte zusammen und floh! Vom freien Wiesenplan, über den ein steifer Ostwind brauste, floh sie in den Schutz des Waldes und verkroch sich zitternd im Bohrloch eines Hirschkäfers. Tief wühlte sie sich in den rotbraunen Mulm des verrotteten Eichenstumpfes, bis sie ringsum die muffige Wärme des Holzes fühlte. Halb entkräftet und halb erstickt, versank sie bald in einen tiefen Schlummer. Mit unter den Leib geschlagenen Flügeln und Fühlern verschlief sie die Schrecken der letzten Wochen und es kommenden Winters.

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